Die Verborgene Kraft der Atome: Paulings Elektronegativität und die Natur der kovalenten Bindung
Chemische Bindungen sind wie unsichtbare Brücken, die die Bausteine der Materie zusammenhalten. Ohne diese Bindungen zwischen den Atomen gäbe es weder Wasser noch Luft oder Leben. Zu verstehen, wie diese Bindungen entstehen, gehört zu den faszinierendsten Bereichen der Wissenschaft.
Was ist eine Bindung?
Eine Bindung kann als Kraft definiert werden, die zwei oder mehr Atome miteinander verbindet. Diese Kraft entsteht durch die Wechselwirkung der Elektronen zwischen den Atomen. Dank der Bindungen werden Atome stabil und viele Stoffe, die in der Natur nicht frei vorkommen würden, können entstehen.
Chemische und physikalische Bindungen
Bindungen lassen sich im Allgemeinen in zwei Kategorien einteilen: chemische und physikalische Bindungen. Chemische Bindungen entstehen durch Elektronenaustausch oder gemeinsame Elektronennutzung zwischen Atomen. Die Wechselwirkungen sind hierbei stark. Kovalente, ionische und metallische Bindungen gehören zu dieser Gruppe. Physikalische Bindungen hingegen sind schwache Wechselwirkungen zwischen Molekülen. Beispiele hierfür sind van-der-Waals-Kräfte oder Wasserstoffbrückenbindungen. Obwohl diese viel schwächer als chemische Bindungen sind, spielen sie eine wichtige Rolle bei der Bestimmung physikalischer Eigenschaften von Stoffen.
Was ist eine kovalente Bindung?
Eine kovalente Bindung entsteht, wenn zwei Atome ihre Elektronen gemeinsam nutzen. Diese Bindungsart tritt meist zwischen Nichtmetallen auf. Beispielsweise teilen das Wasserstoff- (H) und das Chloratom (Cl) jeweils ein Elektron und werden dadurch stabil, wodurch die H–Cl-Bindung entsteht. Die Stärke einer kovalenten Bindung hängt davon ab, wie stark die beteiligten Atome Elektronen anziehen. Genau hier kommt der Begriff Elektronegativität ins Spiel.
Was ist Elektronegativität?
Elektronegativität ist die Fähigkeit eines Atoms, die Bindungselektronen anzuziehen – anders ausgedrückt: die „Elektronenliebe“ eines Atoms. Jedes Element besitzt eine andereElektronegativität. Fluor (F) ist zum Beispiel das elektronegativste Element im Periodensystem und zieht Elektronen besonders stark an.
Der Elektronegativitätsunterschied bestimmt den Bindungstyp:
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Wenn 0 ≤ Δχ < 0,4 ist, handelt es sich um eine unpolare kovalente Bindung (Elektronen werden gleich geteilt).
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Wenn 0,4 ≤ Δχ < 1,7 ist, spricht man von einer polaren kovalenten Bindung (Elektronen werden ungleich geteilt).
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Wenn Δχ ≥ 1,7 ist, besitzt die Bindung überwiegend ionischen Charakter.
Pauling und die Elektronegativitätsskala
Linus Pauling war der erste Wissenschaftler, der das Konzept der Elektronegativität systematisch definierte. Er ordnete jedem Element einen Elektronegativitätswert zu, basierend auf den Bindungsenergien zwischen Atomen.
Pauling schlug folgende Beziehung zur Berechnung des Elektronegativitätsunterschieds vor:
Δχ = √(E_AB – √(E_AA × E_BB))
Dabei gilt:
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χ steht für die Elektronegativität.
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E_AB ist die Bindungsenergie zwischen den Atomen A und B.
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E_AA und E_BB sind die Bindungsenergien der reinen Elemente (A–A und B–B).
Diese Formel erklärt die „zusätzliche Stabilität“, die sich durch die Bindung zwischen zwei unterschiedlichen Atomen ergibt. Paulings Ansatz machte Elektronegativität zu einer messbaren Größe in der Chemie.
Beziehung zwischen Elektronegativität und Bindungstyp
Mit zunehmendem Elektronegativitätsunterschied steigt die Polarität der Bindung.
Beim H–Cl-Molekül beträgt der Unterschied etwa:
χ_Cl – χ_H ≈ 3,16 – 2,20 = 0,96
Deshalb ist diese Bindung polar kovalent, und die Elektronen befinden sich näher beim Chloratom. Dadurch entsteht eine teilweise negative Ladung (δ–) am Chlor und eine teilweise positive (δ+) am Wasserstoff.
Diese unterschiedlichen Ladungsverteilungen bestimmen die Wechselwirkungen zwischen Molekülen und beeinflussen unter anderem die Löslichkeit von Stoffen oder deren Aggregatzustand.
Wer war Linus Pauling?
Linus Carl Pauling (1901–1994) zählt zu den einflussreichsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten zum Verständnis der Natur chemischer Bindungen bilden die Grundlage der modernen Chemie. 1954 erhielt er den Nobelpreis für Chemie für seine Forschungen über die Natur der chemischen Bindung. Später wurde er für sein Engagement im Friedensbereich mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – damit gehört er zu den wenigen Menschen, die zwei Nobelpreise in unterschiedlichen Kategorien erhielten. Das von Pauling entwickelte Elektronegativitätskonzept ist bis heute eine der wichtigsten Referenzgrößen in der Chemie.